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Endlich frei sein 


Nach dem Abistreß ist Neuland zu erobern. Wie gehen Abiturienten vor? Die Wirtschaftswoche fragte nach.

Lehrer werden gefangengenommen, in Ketten gelegt. Sie müssen an den Schandpfahl, öffentlich ihre Untaten bekennen. Revolutionäre Stimmung zum Klang der Marseillaise, Rache für qualvolle Schülerjahre: die Abiturfeier des Gründerjahrgangs der Gesamtschule in Hattingen im Sommer 1997.

Für ihren Abgang haben die Abiturienten sich Symbolträchtiges einfallen lassen: Ein Denkmal – Schulstuhl in vergoldetem Käfig – wird enthüllt. Direktor Ulrich Kops findet Gefallen an dieser Darstellung seines pädagogischen Schaffens. Das Schülerwerk darf bleiben. Die Kritik der Schulabgänger, humorvoll verpackt, zieht sich an bürokratischen Auswüchsen hoch wie den Fehlzetteln, die sie von jedem einzelnen Lehrer abzeichnen lassen mußten, bei dem sie eine Stunde gefehlt haben. „Nieder mit den gelben Zetteln“ steht auf einer Fahne, die quer über das Schulgebäude gespannt ist.

Die Zuneigung zur eigenen Lehranstalt mag sich aus der besonderen Lernsituation dieser 40 Schüler erklären: Sie waren die ersten. Zusammen mit einem wachsenden Lehrerkollegium und jährlich steigenden Schülerzahlen die Schule zu etablieren, hat ihr Gemeinschaftsgefühl zementiert. Auch die Lehrer honorieren, daß sie Schüler der ersten Stunde vor sich haben. Pädagogische Ideale der Gesamtschule – jeder soll nach seinen Fähigkeiten gefördert werden, das Arbeitsleben auch zur gymnasialen Ausbildung gehören – fielen weder dem Sparzwang noch der Unlust von Lehrern zum Opfer.

Schon in der siebten Klasse gab es ein Projekt zum Thema Traumberuf. Was zunächst Gedankenspielerei war, wurde in der neunten Klasse Wirklichkeit: Ein Betriebspraktikum von drei Wochen brachte einen ersten Einblick in mögliche Berufe. Über Verbindungen zum Rotary-Club in Bochum konnten sich die Schüler ihre Praktikumsstellen in Rechtsanwalts- und Architektenbüros, bei Freiberuflern wie in Unternehmen suchen. Informationsveranstaltungen des Arbeitsamts, Besuche im Berufsinformationszentrum (BIZ) und Gesprächsrunden mit Berufspraktikern rundeten die Vorbereitung auf das Leben nach der Schule ab.

Der Erfolg: In der 13. Klasse bewarben sich die Abiturienten, die nicht studieren wollen oder Bundeswehr und Zivildienst abwarten müssen, gezielt – und mit einer nüchternen Einstellung zu den Chancen am Arbeitsmarkt. Semra Yildirim wird Bauzeichnerin, will sich damit später vielleicht ein Innenarchitekturstudium finanzieren. Melanie Richter hat eine Lehrstelle zur Hotelfachfrau. Gerd Stegemann lockt die Medienbranche ebenso wie Daniel Chur: Filmwissenschaft und Publizistik stehen auf den Wunschzetteln. Auch gängige Fächer wie Geschichte, Englisch und Jura, Berufe wie Banker und Lehrer streben die Abiturienten an.

Trotz allen Wissens darüber, daß sie aus einer gewohnten Umgebung in unsichere Gefilde wechseln, vermitteln die Hattinger Schüler eine Portion Optimismus. Er speist sich aus dem Gefühl, von der Schule gut vorbereitet zu sein. „Klar gehört immer eine Portion Glück dazu“, sagt zum Beispiel Gerd Stegemann, „aber man muß sich auch was zutrauen, darf nicht gleich zurückschrecken, wenn etwas nicht so läuft wie gewohnt.“

Klar sei, so die Abiturienten, daß Leistungskurse und Studium kaum etwas gemein haben. Und an den Warnungen der Eltern, daß „Pflichten auf einen zukommen“ und „Entscheidungen und Handlungen weitreichendere Konsequenzen haben als bisher“, sei sicher auch was dran. Doch dafür seien sie endlich frei.

Mit dieser recht selbstbewußten Haltung gehören die Hattinger Schüler heute zur Minderheit, glaubt man der aktuellen Shell-Jugendstudie. Zum zwölften Mal hatten Sozialforscher im Auftrag des Energiekonzerns Jugendliche befragt, nie war das Ergebnis so niederschmetternd wie 1997: Nur 35 Prozent sehen ihre persönliche Zukunft eher zuversichtlich. Und die Hälfte aller Jugendlichen zwischen 12 und 24 hegen auch für die Zukunft der Gesellschaft eher düstere Erwartungen. Die wirtschaftlichen Sorgen drängen heute alle anderen Probleme der Jugendlichen in den Hintergrund.

Davon zeugt der Wunsch nach baldiger finanzieller Unabhängigkeit. Schnell sein Medizinstudium abschließen, um im Sanitätshaus der Eltern zu arbeiten, ist das erste Ziel von Hanno Grave. Und Jens Fandrey will Schreiner lernen. Sollte er später ein Studium aufsatteln, müsse er den Eltern nicht auf der Tasche liegen. Zur neuen Unabhängigkeit gehört es offensichtlich nicht, aus dem Nest zu flüchten. Das Lehrlingsbudget ist anfangs schmal, Studenten-Bafög nichts für große Sprünge. Außerdem: Das Zimmer zu Hause unterstützt die Bequemlichkeit, auch die Freunde harren in Hattingen aus. Die Schüler wollen in Verbindung bleiben.

Die regionale Lage der Stadt an der Ruhr macht den Abiturienten das Pendeln leicht: In die Unis nach Bochum, Essen oder Dortmund dauert die Fahrt mit dem öffentlichen Nahverkehr keine 60 Minuten. Auch bei der Lehrstellensuche reichte die Energie der Bewerber aus der ehemaligen Stahlstadt mit hoher Arbeitslosenquote nicht weiter als zu den nächstgelegenen Ruhrgebietsstädten.

Dafür blieb den Abiturienten trotz aller Paukerei noch Energie und Zeit genug, das Ende ihrer Schullaufbahn würdig zu inszenieren. Einige stellten die Abizeitung her. Andere planten die Revolution. Und eine dritte Gruppe schweißte den goldenen Käfig zusammen: Auf dem Stuhl verewigten sich die Abiturienten, die dem Schulzwang entflohen.

RUTH LEMMER