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Schule neu denken 


Die Schule stellt die größte gesellschaftliche Veranstaltung unserer Kultur dar. Sie beansprucht die lernfähigsten und vitalsten Jahre im Leben der Menschen.

Sie verbraucht - schließt man Studium und Ausbildung mit ein - oft 20 Jahre, die Hälfte der dann folgenden 40 Berufsjahre; sie frißt nicht die Kinder, wohl aber die Kindheit und Jugend. Sie entläßt die jungen Menschen kenntnisreich, aber erfahrungsarm, erwartungsvoll, aber orientierungslos, ungebunden, aber auch unselbständig - und einen erschreckend hohen Anteil unter ihnen ohne jede Beziehung zum Gemeinwesen, entfremdet und feindlich bis zur Barbarei.

Eine Gesellschaft, die ihre jungen Leute bis zum 25. Lebensjahr nicht braucht und sie dieses wissen läßt, indem sie sie in "Schulen" genannte Ghettos sperrt, ist eine Einrichtung, die nichts Nützliches herstellt, an der nichts von dem geschieht, was die Menschen für wichtig halten, die sich nicht selbst erhält und die man nicht freiwillig besucht - eine Gesellschaft, die ihren jungen Menschen dies antut, wird sie verlieren, ganz gleich wie reich, wie demokratisch, wie aufgeklärt sie ist und wie verlockend sie dies darstellt.

Aber kann ich das nicht zuwege bringen, dass in dieser Schule jedes Kind, während der zehn oder zwölf Jahre, die es an ihr verbringt, erfährt: ich werde gebraucht?

Hartmut von Hentig - in: Die Schule neu denken, München/Wien, 1993