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Deutsche Unis sind nicht konkurrenzfähig 
FOCUS-Interview mit dem deutschen MIT-Professor Bernd Widdig

FOCUS:Amerikaner sieht man an deutschen Unis selten. Warum?
Widdig:Unser Bildungssystem hat zurzeit keinen guten Ruf. Es gilt als zu bürokratisch. Viele amerikanische Studenten befürchten, dass sie schlecht betreut werden - nicht ganz zu Unrecht.
FOCUS:Ist die deutsche Hochschullandschaft schlecht auf die globale Zukunft vorbereitet?
Widdig:An deutschen Universitäten wird keine schlechtere Forschungsarbeit geleistet, aber die Lehre kann auf neue Anforderungen einfach nicht zügig genug reagieren. Die Institute haben weder finanziell noch personell einen Handlungsspielraum. Lernende wie Lehrende müssen sich in dieses System fügen und haben nur wenig Möglichkeiten, es aktiv zu gestalten.
FOCUS:Wie lässt sich diese Misere beheben?
Widdig:Wir brauchen tief greifende Veränderungen. Deutschland muss begreifen, dass Bildung ein Markt ist, auf dem die internationale Konkurrenz immer größer wird. Wir müssen unseren Hochschulen die Chance geben, sich auf diesem Markt zu profilieren, mit eigenen Bildungsvorschlägen an die Studenten heranzutreten. Auch Studiengebühren sollten dabei kein Tabu sein.
FOCUS:Die Palette verschiedenster Studienangebote in den USA ist riesig. Ist das ein Vorbild für Deutschland?
Widdig:Eher eine Orientierungsmöglichkeit. In Amerika gibt es eine gesellschaftlich sehr wertvolle Bandbreite von Colleges, unter denen die Schulabgänger wählen können. Jeder hat so die Chance auf eine Ausbildung, die zu ihm passt. Die einzelnen Universitäten nehmen dabei die Bedürfnisse der jungen Menschen ernst, sie werben um sie mit ihrem Angebot. Das führt zu einer hohen Motivation und Identifikation bei den Studenten.
FOCUS:Gibt es im deutschen Bildungswesen zu wenig Entfaltungsmöglichkeiten?
Widdig:Auf jeden Fall. Die heute 20-Jährigen legen großen Wert auf die Entfaltung ihrer Individualität. Auch deswegen werden die US-Universitäten für junge Menschen immer attraktiver. Die sehr persönliche Art, mit der Studenten hier behandelt werden, zeigt großen Respekt vor den Fähigkeiten des Einzelnen.
FOCUS:Viele Probleme des deutschen Bildungssystems sind schon seit Jahren bekannt. Warum ändert sich so wenig?
Widdig:Die Nation muss sich erst einmal in der globalen, digitalen Welt platzieren. Bei der Bildungsdebatte, die im Moment geführt wird, geht es um viel mehr als um die Organisation von Lernen. Es geht darum, wer wir waren und wer wir sein wollen. Das Bildungssystem eines Landes ist der Kern seiner Kultur. In Deutschland wird dem Wert Bildung zu wenig Respekt gezollt. Solange die Politik kein Konzept entwickelt, wie die Bildungslandschaft von morgen aussehen soll, wird sich wenig ändern.

Quelle: FOCUS 17/2000