FOCUS:Amerikaner sieht man an deutschen Unis selten. Warum?
Widdig:Unser Bildungssystem hat zurzeit keinen guten Ruf. Es gilt als zu bürokratisch. Viele amerikanische
Studenten befürchten, dass sie schlecht betreut werden - nicht ganz zu Unrecht.
FOCUS:Ist die deutsche Hochschullandschaft schlecht auf die globale Zukunft vorbereitet?
Widdig:An deutschen Universitäten wird keine schlechtere Forschungsarbeit geleistet, aber die Lehre kann auf
neue Anforderungen einfach nicht zügig genug reagieren. Die Institute haben weder finanziell noch personell
einen Handlungsspielraum. Lernende wie Lehrende müssen sich in dieses System fügen und haben nur wenig
Möglichkeiten, es aktiv zu gestalten.
FOCUS:Wie lässt sich diese Misere beheben?
Widdig:Wir brauchen tief greifende Veränderungen. Deutschland muss begreifen, dass Bildung ein Markt ist, auf dem
die internationale Konkurrenz immer größer wird. Wir müssen unseren Hochschulen die Chance geben, sich auf diesem Markt
zu profilieren, mit eigenen Bildungsvorschlägen an die Studenten heranzutreten. Auch Studiengebühren sollten dabei kein
Tabu sein.
FOCUS:Die Palette verschiedenster Studienangebote in den USA ist riesig. Ist das ein Vorbild für
Deutschland?
Widdig:Eher eine Orientierungsmöglichkeit. In Amerika gibt es eine gesellschaftlich sehr wertvolle Bandbreite von
Colleges, unter denen die Schulabgänger wählen können. Jeder hat so die Chance auf eine Ausbildung, die zu ihm passt.
Die einzelnen Universitäten nehmen dabei die Bedürfnisse der jungen Menschen ernst, sie werben um sie mit ihrem Angebot. Das führt
zu einer hohen Motivation und Identifikation bei den Studenten.
FOCUS:Gibt es im deutschen Bildungswesen zu wenig Entfaltungsmöglichkeiten?
Widdig:Auf jeden Fall. Die heute 20-Jährigen legen großen Wert auf die Entfaltung ihrer Individualität.
Auch deswegen werden die US-Universitäten für junge Menschen immer attraktiver. Die sehr persönliche Art, mit der
Studenten hier behandelt werden, zeigt großen Respekt vor den Fähigkeiten des Einzelnen.
FOCUS:Viele Probleme des deutschen Bildungssystems sind schon seit Jahren bekannt. Warum ändert sich so wenig?
Widdig:Die Nation muss sich erst einmal in der globalen, digitalen Welt platzieren. Bei der Bildungsdebatte, die im Moment
geführt wird, geht es um viel mehr als um die Organisation von Lernen. Es geht darum, wer wir waren und wer wir sein wollen.
Das Bildungssystem eines Landes ist der Kern seiner Kultur. In Deutschland wird dem Wert Bildung zu wenig Respekt gezollt. Solange
die Politik kein Konzept entwickelt, wie die Bildungslandschaft von morgen aussehen soll, wird sich wenig ändern.
Quelle: FOCUS 17/2000