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Leistungstests: Als Dauerveranstaltung nicht geeignet  

Prof. Klaus Klemm über Chancen und Risiken von Vergleichsstudien

Mit TIMSS, PISA und PIRLS, mit LAU, Markus und Quasum häufen sich internationale, bundesweite und länderspezifische Leistungsvergleichsstudien. Die Erwartungen an ihre Leistungsfähigkeit sind ebenso hoch wie die Sorge vor schädlichen Nebenwirkungen. Mit den folgenden vier Anmerkungen will ich meine Einschätzung der Chancen und Risiken der großen Vergleichsstudien formulieren.

Anmerkung 1: Die Vergleichsstudien räumen mit Mythen auf

Die Konfrontation der alltäglichen Wahrnehmung des deutschen Schulsystems mit empirischen Befunden aus Vergleichsstudien führt zur Aufgabe von Mythen. Drei dieser wackelnden Mythen möchte ich stellvertretend anführen:
° Regionen mit expansiver Bildungsbeteiligung sind, was die Schulleistungen ihrer Schüler angeht, nicht schwächer als solche mit eher niedriger Bildungsbeteiligung.
° Die unterstellte leistungsmäßige Hierarchie von den höheren Schulen über Mittelschulen hin zu Hauptschulen wird durch das Leistungsprofil konkreter Schulen in Frage gestellt; sie gilt zwar für die Durchschnittswerte der einzelnen Schulen, nicht aber für die getestete Kompetenz einzelner Schüler in diesen Schularten.
° Gegliederte Schulsysteme sind integrierten bei der Erbringung von Leistungen im kognitiven Feld nicht überlegen. Diese Feststellung gilt dann, wenn integrierte Systeme an Stelle von und nicht zusätzlich zu gegliederten Systemen implementiert wurden.

Anmerkung 2: Der Ertrag von Schule rückt in die Mitte des allgemeinen Interesses

Der vielleicht bemerkenswerteste Beitrag, den die aktuellen Schulleistungsvergleiche zum Modernisierungsprozess der Schule leisten, besteht darin, innerhalb der Qualitätsdebatte zu Schule und Unterricht eine Akzentverlagerung eingeleitet zu haben. Während insbesondere in der westdeutschen Tradition der Qualitätsdebatte Kontext- und Prozessvariablen im Mittelpunkt und Wirkungen eher am Rande standen, konzentriert sich der Blick jetzt sehr stark auf die Wirkung von Schule und insbesondere von Unterricht. Ablesen lässt sich diese Verschiebung der Blickrichtung nicht nur an den Zentralthemen der schulpolitischen Debatte, sondern auch an Schwerpunkten der Forschungsförderung, an thematischen Akzenten in Fachzeitschriften, an Tagungsthemen und - nicht zuletzt - am neu gewonnen Interesse an fachdidaktischen Themen in der universitären Lehrerbildung.

Mit dieser Verlagerung der Aufmerksamkeit vom Kontext und vom Prozess schulischer Arbeit hin zu ihren Wirkungen sind aber zugleich zwei Nebenwirkungen verbunden: die der - wie ich es nennen möchte - ‚curricularen Globalisierung' und die der Engführung bei den Lernzielen. Das gilt es auszuführen. Den internationalen Vergleichsstudien liegt ein internationales Curriculum zugrunde, das faktisch durch die Testaufgaben definiert wird und das nicht in jedem Fall auf curriculare Validität überprüft wurde. In den Ländern, in denen das Abschneiden bei derartigen internationalen Studien eine hohe Bedeutung für die weitere Schulentwicklung erhält, könnte die Schulpolitik insgesamt oder die Schulentwicklungsarbeit an einzelnen Schulen versucht sein, im Bestreben um bessere Ergebnisse beim ‚nächsten Mal' den Unterricht und die Überprüfungsverfahren international auszurichten.

Neben diesem Effekt der ‚curricularen Globalisierung' ist der der Engführung bei den Lernzielen nicht auszuschließen: Die öffentliche Debatte der international vergleichenden Studien hat den Blick nahezu ausschließlich auf Wirkungen im Bereich fachlicher Leistungen gerichtet. Sie ist damit hinter die Qualifikationsforschung zurückgefallen, die ja - ohne fachliche Kompetenzen gering zu schätzen - ein deutlich weiteres Qualifikationsverständnis herausgearbeitet hat.

Anmerkung 3: Schulentwicklung gewinnt einen zusätzlichen Referenzrahmen

Mit den Ergebnissen der Schulleistungsstudien gewinnt die Schulentwicklung einen Referenzrahmen. Für die Standortbestimmung der einzelnen Klasse und der Einzelschule ist ein solcher Referenzrahmen allerdings nur dann hilfreich, wenn er die Entstehungsbedingungen der Leistungserbringung mitteilt. Dadurch erst werden Ansatzpunkte für Verbesserungen herausgearbeitet und der Konfrontation der Einzelschule mit ‚unfairen' Vergleichsdaten vorgebeugt.

Anmerkung 4: Vergleichsstudien haben die Tendenz, zur Dauerveranstaltung zu werden

Die Nutzbarmachung von Ergebnissen der Leistungsvergleichsstudien für die Schulentwicklung wird in dem Maße schwieriger, in dem diese zu alltäglichen Veranstaltungen werden. So hilfreich sie - dosiert eingesetzt - für das Wegräumen von Mythen, für das Justieren der Schule auf ihr Kerngeschäft und für eine - auch internationale - Standortbestimmung sein mögen, so kontraproduktiv werden sie im Prozess der Schulentwicklung, sobald sie zur Dauerveranstaltung entarten. Dass aus der Fülle von Tests nicht zwangsläufig Qualität erwächst, zeigt uns das Beispiel der USA: Dort können statt steigender Schulleistungen eher Abnutzungserscheinungen bei den Testanwendern beobachtet werden. Wer "large scale assessments" unter der Hand dazu nutzen will, eine Deutschland umfassende Form regelmäßiger zentraler Leistungsüberprüfung zu etablieren, der sollte diese Nebenwirkungen kalkulieren und zur Kenntnis nehmen, dass uns gerade die TIMSS-Studie gezeigt hat, dass zentrale Prüfungen vielleicht der Vergleichbarkeit von Zertifikaten dienen, sicher aber keinen eigenständigen Beitrag zur Sicherung von international hoher Qualität darstellen.

Quelle: Forum Bildung